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Was ist Lifelogging?

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lifeloggingNichts wird mehr vergessen, das ganze Leben wird gespeichert und zunehmend optimiert ­ etwa so lässt sich «Lifelogging», zu Deutsch: Lebensprotokollierung, charakterisieren. Microsoft-Entwickler Jim Gemmell, der eine Lifelogging-Software entwickelt hat, prophezeit, dass uns ein Lifelogging-Jahrzehnt bevorsteht. Jedes noch so kleine Detail des Lebens wird aufgezeichnet und gespeichert werden: Kommunikation, Aktivitäten, Aufenthaltsorte, die körperliche Verfassung usw. Noch fehlen zwar anwenderfreundliche Technologien, die wie Heinzelmännchen ständig im Hintergrund agieren, doch es gibt bereits jede Menge Apps und Geräte, die sich für einzelne Lebensbereiche einsetzen lassen. Das erklärte Ziel des Lifeloggings: durch Analyse aller vorhandenen Daten jederzeit die richtigen Entscheidungen treffen können.

Entscheidend für die Selbstvermessung sind Sensoren, die biometrische Daten oder Geodaten erfassen, sowie Miniaturkameras, die neben dem aufgenommenen Bild auch den Zeitpunkt und den Standort speichern. Erste Versuche in Richtung einer Totalerfassung wurden mit Evernote und Google Glass gestartet. Beim Webdienst Evernote, der sich als «zweites Gehirn» versteht, können die Nutzer Informationen in allen möglichen Formaten speichern, um bei Bedarf leicht auf sie zurückzugreifen. Die Google-Glass-Datenbrille zeigt dem Träger Zusatzinformationen über seine aktuelle Umgebung, sodass eine Augmented Reality, eine «angereicherte Realität», entsteht.

Entmenschlichte Menschen

Lifelogging-Fans unterstellen dem menschlichen Wesen, nicht in der Lage zu sein, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Der Mensch stehe sich selbst unkritisch gegenüber und belüge sich sogar selbst. Darum sei es sinnvoll, eine Art Blackbox zu haben, in der alle Daten emotionslos gespeichert werden: Nichts wird hier beschönigt, nichts gerät vergessen. Den Gedächtnisverlust im Alter muss auch niemand mehr fürchten. Kurz: Das Leben soll besser werden. Dieser Denkansatz kommt allerdings einer Entmenschlichung gleich. Schliesslich ist die totale Erinnerung keine menschliche Eigenschaft, ebenso wenig die objektive Wahrnehmung. Interessanterweise zeigten sich zum Lifelogging befragte Digital Natives kaum euphorisch: 75 Prozent befürchteten Datenmissbrauch. 60 Prozent hätten ein Problem damit, unbemerkt gefilmt zu werden. Manche Dinge sollte man vergessen, meinten ausserdem viele. Und: Die natürliche Gedächtnisleistung reiche für den Bedarf eines normalen Menschen aus.

«Lifelogging passt sich perfekt dem Anforderungsprofil einer Gesellschaft an, die Menschen immer häufiger bloss noch als Leistungsträger oder Leistungsverweigerer einstuft.».

Einsatzgebiete des Lifeloggings

In diesen fünf Gebieten wird Lifelogging künftig eingesetzt:

  1. Digitale Selbstbeobachtung: Ob Pulsschlag, Fleischkonsum oder Lerndauer – schon heute wandern alle möglichen Daten zum Tagesablauf und zur körperlichen Verfassung vieler Menschen in eine Blackbox. Gemessen wird überwiegend mit Apps. Tester bemängeln aber die dadurch veränderte Selbstwahrnehmung: Die Datenreihen ersetzen das Gefühl, man beginnt, nach Kennzahlen zu jagen, und jede Abweichung mündet in dem Gefühl, ein Problem zu haben. Positive Resonanz gibt es bei medizinischen Belangen: Um sich nicht zu sehr von den zumeist überarbeiteten Ärzten abhängig zu machen, teilen unter anderem chronisch Kranke in Netzwerken ihre erfassten Daten und tauschen sich über die Wirkung von Medikamenten aus. Vorsicht ist geboten, wenn Menschen sich selbst zu Forschungsobjekten machen: Überforderung und Fremdbestimmung können die Folgen sein.
  2. An- und Abwesenheitsspuren: Beim sogenannten Human Tracking geht es um die An­ und Abwesenheit einer Person oder um deren physische Aktivität in einem bestimmten Raum. Über Dienste wie Foursquare oder Facebook Places erfasst der Nutzer seinen aktuellen Aufenthaltsort und kann diesen bei Bedarf mit anderen teilen. Dank Diensten wie TrackYourKid wissen Eltern immer, wo sich ihre Kinder gerade aufhalten. Ob damit aber die Sicherheit tatsächlich erhöht wird, ist fraglich. Wahrscheinlich ist hingegen, dass Kinder, die sich nur noch an der langen Leine bewegen dürfen, nie eigenverantwortliches Handeln lernen werden. Eine sehr beliebte Human-Tracking-Form ist die Selbstvermessung von Joggingstrecken. Auf der Website Alsterrunning etwa können Läufer sich registrieren und dem Wettbewerb stellen. Damit ist der im Arbeitsleben so oft verteufelte Leistungsdruck definitiv in der Freizeit angekommen.
  3. Digitales Gedächtnis: Vor allem mit Fotos soll eine lückenlose Erinnerung gewährleistet werden. Doch Erinnerung hat auch immer etwas mit Sentimentalität zu tun. Alte Objekte, selbst gedruckte Fotos, die uns an etwas erinnern, weisen Gebrauchs- und Altersspuren auf und befinden sich meist an besonderen Orten, die ebenfalls mit der Erinnerung zusammenhängen. Dass sich beim Durchforsten eines Systemordners nach digitalen Fotos auch eine solche Sentimentalität einstellt, ist zu bezweifeln. Neben Fotos können auch viele andere Daten gespeichert werden; unter anderem passiert das mit der Timeline von Facebook. Das menschliche Gedächtnis wählt allerdings immer bestimmte Ereignisse aus und verleiht ihnen so ein besonderes Gewicht. Eine Software, die jede Kleinigkeit abspeichert, kann keine bedeutsame Lebensgeschichte nachzeichnen.
  4. Digitale Unsterblichkeit: Lifelogging-Fans schätzen die Möglichkeit, wenigstens digital unsterblich zu werden. Bereits jetzt können Sie über Webdienste Ihr Leben nach dem Tod vorbereiten, und zwar nicht nur, was die Planung der Beerdigung oder das Verschicken von Abschiedskarten im Todesfall betrifft. Sie können auch veranlassen, dass Ihre Hinterbliebenen nach Ihrem Tod ein Passwort zugeschickt bekommen, das ihnen Zugang zu einem Fotokatalog mit Ihrer Lebensgeschichte gewährt. Der nächste Schritt ist ein eigener Avatar. Damit kreieren Sie noch zu Lebzeiten einen digitalen Doppelgänger, der später sogar mit den Lebenden in Social Medias in Verbindung treten kann.
  5. Digitale Selbstverteidigung: Wer polizeilicher Gewalt zum Opfer gefallen ist, hat im Nachhinein vor Gericht schlechte Karten. Videos haben aber schon so manche Verurteilung ermöglicht, da sie beweisen konnten, was wirklich passiert war. Es gibt Menschen, die jeden ihrer Schritte aufzeichnen und in Echtzeit online stellen. Damit schaffen sie sich vorbeugend Alibis, falls sie einmal unschuldig verhaftet werden sollten. Diese sogenannte Sousveillance (zu Deutsch: «Unterwachung») soll der massenhaften Überwachung zuvorkommen. Natürlich birgt ein solches Verhalten die Gefahr, dass man sich in vorauseilendem Gehorsam selbst zensiert. Schliesslich verhalten sich Menschen prinzipiell anders, wenn sie sich beobachtet fühlen.

«Erinnerung ist kein kontrollierter Vorgang und die totale Kontrolle keine menschliche Eigenschaft.»

Digitalisierte Sinnsuche

Viele Menschen suchen unentwegt nach dem Sinn des Lebens. Viele Lifelogger erhoffen sich von der laufenden Selbstvermessung, ihn zu finden. Doch Lifelogging wird sie in dieser Hinsicht zwangsläufig enttäuschen. Da sie ihr Leben nur auf die Art und Weise aufzeichnen können, wie es die jeweilige Technik ermöglicht, wird diese schnell zum Orientierungsrahmen. Mit anderen Worten: Das Leben wird stets den möglichen Formen der Protokollierung angepasst. Die zweite Gefahr einer digitalisierten Sinnsuche besteht im ständigen Vergleich mit anderen. Lifelogger stellen ja nicht nur ihr eigenes Leben zur Schau, sie empfangen auch immerzu die Signale anderer. Mangelempfinden und Verbesserungsstreben liegen ohnehin schon in der Natur des Menschen. Beides wird durch Lifelogging noch potenziert. Wer sich ständig mit anderen vergleicht, wird unzufrieden. Schliesslich gibt es immer jemanden, der besser, schöner, gesünder, klüger, reicher oder sportlicher ist. Besonders Social Medias wie Facebook fördern den Exhibitionismus. Je mehr sich die Nutzer präsentieren, desto stärker unterwerfen sie sich der Kontrolle durch andere. Schliesslich werden ihre Handlungen so berechen- und steuerbar. Was nicht in die Norm passt, stört. Am Ende entsteht eine gleichgeschaltete Gesellschaft.

Der Körper als Maschine

Eine grosse Rolle beim Lifelogging spielt der menschliche Körper. Mit der nötigen Technik kann sich jeder selbst vermessen und sich mit vermeintlichen Idealen vergleichen. Mit Messwerten und Normen soll es gelingen, die Gesundheit zu erhalten. Die Selbstvermessung kann allerdings schnell ins Zwanghafte abdriften; die Menschen verlernen die ganzheitliche Betrachtung des Körpers und der Gesundheit. Lifelogging ignoriert, dass viele Aspekte des Lebens nicht berechenbar sind. Oft wird nicht das gemessen, was eigentlich nötig wäre, sondern nur das, was möglich ist. Der Schritt zu einer künstlich erzeugten Hypochondrie ist nicht weit. Es besteht die Gefahr, dass Lifelogger Zusammenhänge herstellen, wo es keine gibt, und dass sie die gesunde Wahrnehmung ihres eigenen Körpers verlieren. Versicherte der AOK NordWest können schon heute ihre Daten in eine Maske eingeben und sich dann in einer Rangliste mit anderen vergleichen. Wie lange wird es dauern, bis Versicherte, die sich diesem Messwahn verweigern oder deren Daten nicht innerhalb der Norm liegen, mit höheren Beiträgen bestraft werden?

«Der Fokus der Wahrnehmung verschiebt sich vom Gefühl zur Datenreihe.»

Wem nützen die Daten wirklich?

Wer sich dem Lifelogging hingibt, füllt gemeinsam mit vielen anderen eine gigantische Datengoldgrube – und zwar freiwillig, ganz ohne dass ein Geheimdienst etwas dafür tun muss. Wo sich so viele Menschen gegenseitig kontrollieren, erübrigt es sich geradezu, einen Überwachungsstaat aufzubauen. Die Frage ist nur, wer diese Goldgrube nutzt. Es wird zwar immer behauptet, dass die Menschen aus freien Stücken ihre Daten sammeln und mit anderen teilen und dass es sich um einen Trend unserer Zeit handelt. Aber ist das wirklich so? Die dunkle Seite der auf diesen Daten beruhenden Macht offenbart sich spätestens dort, wo die Daten analysiert werden. Wofür sie irgendwann einmal genutzt werden können, ist zum Zeitpunkt ihrer Erhebung noch niemandem klar. Je mehr Daten über eine Person zusammenkommen, desto besser lassen sich damit Rückschlüsse auf deren Herkunft, Meinung, Vorlieben und Zugehörigkeit ziehen. Da schon heute keine gründliche Datenlöschung mehr möglich ist, sollten sich die Selbstvermesser stets fragen, welche Konsequenzen es hätte, wenn die Daten, meist in Clouds gespeichert, gehackt und veröffentlicht würden.

Unzufriedenheit und Ungerechtigkeit

Lifelogging lässt eine Kontrollgesellschaft entstehen, in der jeder alles über jeden weiss. Bereits jetzt vollzieht sich ein schleichender kultureller Wandel. Leider sind die Änderungen kaum wahrnehmbar, weshalb sich auch kein Problembewusstsein entwickelt. Das wäre aber dringend nötig. Ein Leben in der Datengesellschaft bedeutet, sich ständig und immer stärker selbst auszubeuten, um im Vergleich gut dazustehen. Der Sinn des Lebens besteht dann in Schönheit, Gesundheit und Leistung. Eine Lifelogging-Gesellschaft wird neue soziale Klassen hervorbringen. Die Zugehörigkeit zu diesen wird durch den Zugang zu Daten geregelt. Kunden, Patienten, Nutzer – sie alle hinterlassen schliesslich digitale Spuren. Schon heute werden besonders lukrative Kunden besser behandelt als seltene Gäste. Wer keinen Zugang zu moderner Technik hat, kann schnell den Anschluss verlieren und sozial ausgeschlossen werden. Genau das charakterisiert eine ungerechte Gesellschaft.

«Es ist nicht allein «Big Brother», vor dem wir Angst haben sollten. Auch die vielen kleinen Schwestern könnten zu einer umfassenden Neurotisierung der Gesellschaft führen.»

Alternativen

Lifelogging verspricht viel, birgt aber auch Potenzial für grosse Enttäuschungen. Denn Ziele wie bessere Gesundheit, höhere Sicherheit oder mehr Leistung lassen sich nicht allein mit Technik erreichen. Mehr Daten garantieren noch lange kein besseres Leben. Anstatt beim Datenwahn mitzumachen, können Sie für sich persönlich die folgenden Alternativen in Betracht ziehen:

  • Erzählen: Schreiben Sie Tagebuch. Das hilft Ihnen, Ihr Leben zu reflektieren. Durch das Erzählen gewinnen Sie mehr Einsichten als durch das Auflisten von Daten darüber, was Sie gefrühstückt haben, wann Sie aufgestanden sind, welchen Puls Sie hatten, wie lange Sie gejoggt sind und wie Ihr Gewicht aussah.
  • Zufall: Anstatt viele Daten auszuwerten, können Sie den Zufall entscheiden lassen, welche Daten Sie herauspicken und betrachten. So gewinnen Sie neue Perspektiven auf Ihr Leben. Ausserdem entstehen dadurch neue Assoziationen.

Erkenntnisse

  • Mit «Lifelogging» werden Technologien bezeichnet, die den Alltag möglichst lückenlos festhalten.
  • Motivationen für Lifelogging sind Selbstbeobachtung, Spurenverfolgung, digitale Unsterblichkeit und die Sicherung von Beweismaterial
  • Die Technik bestimmt darüber, wie das Leben aufgezeichnet wird; deshalb wird sie zwangsläufig zum Orientierungsrahmen.
  • Lifelogging ermöglicht ständige Vergleiche mit anderen. Das macht unzufrieden.
  • Wenn sich sehr viele Menschen gegenseitig kontrollieren, ist kein Überwachungsstaat mehr nötig.
  • Durch die Selbstvermessung des Körpers wird die natürliche Wahrnehmung beeinträchtigt.
  • Ein umfassendes Lebensprotokoll kommt einer Entmenschlichung gleich, denn die totale Erinnerung ist nichts Menschliches.
  • Sicherheit, Gesundheit und Lebenssinn lassen sich nicht allein mit Technik erreichen.
  • Wer künftig keinen Zugang zu neuer Technik hat, wird aus der Gesellschaft ausgeschlossen.
  • Eine Alternative zum umfassenden Lifelogging ist das Sammeln ausgewählter Daten, nach dem Motto «Qualität statt Quantität».

Stefan Selke ist Professor für Soziologie und gesellschaftlichen Wandel an der Hochschule Furtwangen.


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